Von der Mannheimer Fankurve ins NHL-Trikot der Vancouver Canucks? Klingt nach einer dieser schönen Märchengeschichten, die Marc Michaelis derzeit erlebt. Lange Jahre war es auch nicht mehr als ein Traum für ihn, eine vage Hoffnung vielleicht, aber wenig real. Genau das macht seine Geschichte so interessant. Denn sie zeigt eines ganz deutlich: Ziele lassen sich jederzeit neu definieren. Wenn man nur an sich glaubt und Schritt für Schritt vorgeht.
Edmonton. Es ist Mittwoch, der 13. Januar 2021, der Saisonauftakt der NHL. Marc Michaelis schaut ins beeindruckende Rund des Rogers Place. Über 18.000 Fans haben hier Platz. Unten auf dem Eis drehen Leon Draisaitl und Dominik Kahun ihre Runden beim Training der Oilers. Es ist die Vorbereitung auf das erste Heimspiel gegen die Canucks. Die drei, die sich gut kennen – aus gemeinsamen Zeiten bei den Jungadlern Mannheim und der Nationalmannschaft – begrüßen sich über die Bande hinweg, tauschen ein paar lockere Sprüche aus. Das Aufeinandertreffen der drei Deutschen findet nur jetzt beim Training statt, später schaut Michaelis von den Rängen zu und sieht, wie seine Kollegen zum Auftakt 5:3 gewinnen. So nah ist er der NHL gekommen und so fern wirkt an diesem Abend noch das Eis, auf dem sich beide Teams duellieren. Er ist Teil der sogenannten Taxi Squad der Vancouver Canucks. Jener Spieler, die in dieser besonderen Saison aufgrund der Pandemie ständig auf Abruf sind und auch jeden Road Trip mitmachen. Hierzulande würde man sagen: im erweiterten Kader, jederzeit einsatzbereit. Ran darf er an diesem Abend (noch) nicht, bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe konnte er noch kein Spiel für sich verbuchen.
Er weiß, dass er jetzt noch mal Geduld braucht. Was soll er auch machen? Natürlich ist es schwierig, Tag für Tag auf den entscheidenden Moment, den Anruf, die Info zu warten. Es sind wenige, kleine Gesten, die ihn bestärkt haben, auf dem richtigen Weg zu sein: „Kurz vor dem Ende des Trainingscamps hat mir Headcoach Travis Green einen kurzen Klaps mit dem Schläger auf den Po gegeben und „keep up the good work“ gesagt. Da wusste ich, ich bin auf dem richtigen Weg und muss mich weiterempfehlen. Tag für Tag.“ Andere Spieler werden während des knallharten Ausscheidungskampfs vor dem NHL-Start von den Canucks in die Minor Leagues abgegeben, während er von General Manager Jim Benning einen Anruf erhält, dass er bleibt – zunächst eben „nur“ in der Taxi Squad. Road Trips wie den nach Edmonton schätzt Michaelis, „weil ich da immerhin mal meine Teamkollegen besser kennenlerne.“ Aufgrund der Corona-Situation pendeln die Spieler derzeit fast nur zwischen Wohnort und Arena – soziale Kontakte müssen auch in Kanada weiter eingeschränkt bleiben. Das ist unschön, aber kein echtes Problem. Denn sein Fokus liegt klar auf dem nächsten Etappenziel: das erste Liga-Spiel als Profi zu absolvieren. Endlich. Am liebsten eben für die Canucks in der NHL.
Wenn man sich mit dem 25-Jährigen unterhält, wird schnell klar: In Etappen zu denken, Ziele ständig zu überprüfen und neu zu setzen, hat ihn ziemlich weit gebracht. Mal ehrlich gefragt: Wer hatte Marc Michaelis auf dem Schirm, als er 2018 von damaligen Bundestrainer Marco Sturm für die Weltmeisterschaft in Dänemark nominiert wurde? Vermutlich nur die absoluten Eishockey-Insider. Also die Verrückten unter uns, die junge deutsche Talente bis tief in die Systeme der nordamerikanischen Junioren- und College-Ligen verfolgen und beobachten, wer sich da hervortut.
Umso überraschter waren die meisten, als der Name des gebürtigen Mannheimers auf der Kaderliste des DEB auftauchte. Michaelis war dabei alles andere als irgendein junger Nachrücker in Sturms Planspielen. Bei der Nationalmannschaft erhielt er anschließend viel Eiszeit und spielte ein überzeugendes erstes WM-Turnier im Profibereich. Für Michaelis ein Schlüsselmoment in seiner jüngsten Entwicklung: „Marcos Vertrauen war unheimlich wichtig für mich. Zu wissen, dass ich es eben auch bei den Profis schaffen kann, nachdem ich ja bislang nur im Nachwuchs oder College gespielt hatte, tat gut. Ich habe gesehen, dass ich nicht weit weg bin und Erfolg haben kann.“
Ein Jahr später musste er sich im DEB-Trikot wieder neu beweisen, als ihn Sturms Nachfolger Toni Söderholm ebenfalls zur WM-Vorbereitung einlud: „Ein neuer Coach, der mich nicht kennt, und wieder musste ich funktionieren und mich durchsetzen. Im letzten Vorbereitungsspiel in Mannheim hat er mich sogar 60 Minuten auf der Bank sitzen lassen, ausgerechnet in meiner Heimatstadt. Und trotzdem habe ich die WM gespielt und wieder einen Weg gefunden, meinen Beitrag zu leisten. Auch das war noch mal eine Bestätigung, an mich zu glauben. Daher war das zweite WM-Jahr für mich vielleicht noch wichtiger.“ Mittlerweile wissen die Eishockeyfans in Deutschland, wer dieser Marc Michaelis ist, den die Vancouver Canucks im März 2020 als Neuzugang vorgestellt hatten.
Dazu beigetragen hat auch sein starker Auftritt beim MagentaSport-Cup, als er im Herbst für die Adler Mannheim auflief. Der ideelle Wert, das Adler-Trikot überstreifen zu dürfen, war für Michaelis riesig: „Für mich war es ein unfassbarer Moment, mein Trikot in der Kabine der Profis hängen zu sehen und in der SAP Arena aufzulaufen. Wie schade, dass keine Zuschauer zugelassen waren. Aber dennoch hat sich für mich ein großer Traum erfüllt.“ Kurz vor dem DEL-Auftakt wurde er nach Vancouver beordert, deshalb wurde es auch hier noch nichts mit dem ersten Liga-Profispiel seiner Karriere. Eine Randnotiz, denn er wird sicher noch viele Liga-Spiele machen – egal ob in der DEL oder der NHL.
Als „Local Boy“ gab’s allerdings keinen Bonus oder gar ein leichteres Leben.
Marc Michaelis bekommt glänzende Augen, wenn er sich erinnert, wie er mit Vater und Bruder noch im altehrwürdigen Eisstadion am Friedrichspark den Adlern die Daumen drückte. Wie so viele stand auch er auf einer mitgebrachten Styropor-Kiste, um in der Stehkurve überhaupt etwas vom Spiel sehen zu können. Als Mannheimer Eigengewächs durchlief er später alle Nachwuchskader der Jungadler – und war einer der wenigen, der nicht in einer Gastfamilie oder im Internat wohnte. Als „Local Boy“ gab’s allerdings keinen Bonus oder gar ein leichteres Leben. Vor allem, weil die Talentschmiede in Mannheim damals überquoll. Seine Teamkameraden? Beispielsweise Leon Draisaitl, Dominik Kahun oder auch Freddy Tiffels. Die Talente aus dem goldenen 1995er-Jahrgang, dem auch Michaelis angehört. Ein Jahrgang, dem scheinbar viele Möglichkeiten offenstanden. Oder war es doch nicht so einfach? Für Marc Michaelis jedenfalls nicht.
Als der damalige Macher der Jungadler, Helmut de Raaf, nach der Saison 2012/13 seine eigene Karriere vorantrieb und Mannheim den Rücken kehrte, standen die Jungadler vor einem Umbruch mit ungewissem Ausgang. Viele Talente gingen, um wie de Raaf den nächsten Schritt zu machen. Auch Michaelis haderte, wie es weitergehen sollte. Er blieb letztlich, bekam von de Raafs Nachfolger Frank Fischöder als Kapitän die tragende Führungsrolle zugewiesen. Mit Erfolg: Auch diesmal holten sie die DNL-Meisterschaft und er wuchs mit der Verantwortung.
Doch schon längst gab an langen Familienabenden im Hause Michaelis offene Gespräche mit seinen Eltern, wie es für ihn weitergehen sollte: „Es gab im Prinzip drei Optionen. Hierbleiben, das Abi machen und sich über die Oberliga und DEL2 für die DEL empfehlen. Nach Nordamerika ins Junior Hockey wechseln, versuchen ein College-Stipendium zu ergattern und dort den Abschluss zu machen. Oder ganz aufhören. Denn mir war damals nicht klar, ob ich je gut genug sein würde, um mit Eishockey meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Selbst ein Dominik Kahun wurde nicht gedraftet und musste sich erst über die Nachwuchsligen empfehlen. Wo hätte ich mich damals also einordnen sollen? Wenn wir ehrlich sind, hätten die meisten von uns mit 18 oder 19 Jahren gar nicht den direkten Sprung ins Profigeschäft geschafft. Das haben jüngst doch nur Leon Draisaitl, Moritz Seider oder Tim Stützle gepackt.“ Und fügt kritisch hinzu: „Auch wenn sich hier viel Gutes in Sachen Talente und Nachwuchs getan hat, ist die Lücke zwischen Nachwuchs und DEL nach wie vor einfach zu groß. Und der Weg über die unteren Ligen ist auch alles andere als einfach. Du brauchst als junger Spieler einfach Eiszeit. Aber bekommst du die auch und vor allem wo?“ Zweifel, die auch an ihm nagten.
Einer, der ihm damals quasi als Vorbild diente und seine Entscheidung letztlich beeinflusste, war Freddy Tiffels. Der hatte den Schritt von den Jungadlern ins US-amerikanische Junior Hockey gewagt und berichtete nur Gutes nach seinen ersten beiden Jahren in Amerika: „Wir standen damals viel in Kontakt und ich habe ihn gefragt, wie es läuft. Ich hatte schon mit 13 oder 14 Jahren die Idee, an einem Schüleraustausch in die USA teilzunehmen. Und die Gespräche mit Freddy haben mich bestärkt, es einfach auszuprobieren. Was hätte ich schon verlieren können? Schon da habe ich im Prinzip in Etappen gedacht. Und meine Familie stand hinter mir.“
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